Eines Tages kam [Ernesto] zufällig vor das Portal einer Kirche, wo sich auf erhobenen Sockel eine in Stein gemeißelte Frauenfigur befindet. … Er betrachtete sie und schien sich nicht mehr von ihr trennen zu können, so sehr gefiel sie ihm.
„Dieses Antlitz“, sprach er, „ist ebenso hold wie ernsthaft, ebenso achtungsgebietend wie anziehend. Schade, dass es nicht lebt; aber lebt es denn nicht? Doch das tut es.“ Es schien, er habe nun seine Geliebte gefunden, und in der Tat stellte er sich von da an täglich um dieselbe Stunde vor dem Idealbild ein, Gespräche mit ihm führend, als könnte es reden, und gäbe ihm Antwort. „Was ich an dir schön finde“, sagte er, indes er so nah wie möglich vor sie hinstand, die ihm begreiflicherweise keine Achtung schenkte, „ist die ruhende Beständigkeit. Stets bist du dieselbe. Von welcher anderen Frau, so liebenswürdig sie sein mag, läßt sich dies sagen? Blick ich dich an, so hab‘ ich nie den unangenehmen Eindruck, ich sei dir lästig, du lässt dir mein Forschen mit großartiger Gelassenheit gefallen. Wie sind dein Gewand und deine Körperhaltung edel. Ich liebe dich in jeder Beziehung, obschon ich eigentlich den loben sollte, der dich schuf, aber dein Anblick lässt mich vergessen, dass du ein Kunstgegenstand bist; es ist mir, als kenntest du mich und sähest mich gern. Verzeih die Aufdringlichkeit dem Liebebedürftigen.“
(aus: Robert Walser: Ernesto – mehr in: Feuer, Suhrkamp 2003)
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