Posts Tagged ‘Zitat’

Wegweiser mit Wegzeit

Dienstag, Dezember 7th, 2021

Wegweiser

Keines [der] Schilder zeigt ein Längenmaß an, stattdessen immer die Wegzeit, mit der zu rechnen sei, wollte einer von A nach B, also von da nach dort. Was aber, fragt sich Sobek, wenn er Mountainbike führe oder Flügelschuhe trüge oder einen Klotz hinter sich herziehen müsste. Und einmal angenommen, er beamte sich hin und her … Immer bräuchte er anderslang, an ein Ziel zu gelangen, hätte er überhaupt eines. Außerdem fragt er sich, ob es sich bei den Zeitangaben um die höchste je gemessene Geschwindigkeit handelt, in der ein Fußgänger die Wegstrecke bewältigt hat, eine Art örtlichen Weltrekord, oder das Durchschnittstempo eines gewöhnlichen Menschen, von Zeitnehmern sorgsam gestoppt oder bloß über den Daumen gepeilt. Es machte, so denkt er sich, wohl einen Unterschied, ob einer die Strecke im Eilschritt oder im Schnelllauf nähme, etwa aus sportlichen Gründen oder um einer Gefahr zu entgehen, oder ob er kröche, weil verletzt oder müde oder schwach auf den Beinen, aus Lust an der Langsamkeit oder zu einem anderen Zweck, etwa etwas zu suchen, Maronen oder Schwämme. Oder ein Kriegsrelikt. Oder einen verlorenen Freund. Ja, den verlorenen Freund!
(Anna Baar, NIL)

Stadtbesichtigung

Sonntag, November 11th, 2018

Reste

In Maurilia wird der Reisende eingeladen, die Stadt zu besichtigen und zugleich gewisse alte Ansichtskarten zu betrachten, die zeigen, wie sie früher war: genau derselbe Platz mit einem Huhn anstelle des Autobusbahnhofs, dem Musikpavillon anstelle der Überführung, zwei Fräulein mit weißem Sonnenschirm anstelle der Munitionsfabrik. Um die Einwohner nicht zu enttäuschen, muss der Reisende die Stadt auf den Ansichtskarten loben und sie der heutigen vorziehen.
(Italo Calvino in:
Die unsichtbaren Städte)

Neues vom Schloss a

Stiller Spaziergang

Samstag, Juni 16th, 2018

Fernsehturm

In bestimmten lichten Augenblicken des Nachdenkens, wie jene am frühen Nachmittag, wenn ich beobachtend durch die Straßen schlendere, bringt mir jeder Passant eine Nachricht, lehrt mich jedes Haus etwas Neues, enthält jedes Plakat eine Mitteilung für mich.
Mein stiller Spaziergang ist ein beständiges Gespräch, und wir alle, Menschen, Häuser, Steine, Plakate und Himmel, sind eine große freundschaftliche Menge, die sich mit Worten anrempelt in der großen Prozession des Schicksals.
(Pessoa)

Zeichen

Köpenick 1

Begegnung

Mittwoch, April 4th, 2018

Begegnung

Ohne es zu merken, gleite ich in ein leichtes, schwelendes Unwohlsein. Keine Depression, eher ein Hang zur Melancholie, die ich in der Hand drehe wie einen kleinen Planeten, überzogen von Schatten, unmöglich blau.
(Patti Smith)

Große gleichmäßige Stille

Sonntag, April 2nd, 2017

Große gleichmäßige Stille

Es dämmerte zusehends, und ein leichter Wind hauchte vom Meer, dessen Gegenströmung eingesetzt hatte, auf das niedrige Vorgebirge. Den ganzen Tag über hatte das Meer sich zur großen gleichmäßigen Stille weiter geglättet, unter einem Schirokko, der ohne die geringste Veränderung seit dem Aufbruch von Neapel angedauert hatte: aus Ost, aus West und Ost, gestern, heute und morgen, dazu das mattmatte Wogen der grauen, der silbernen oder der ehernen Welle, die sich wiederholte, so weit das Auge reichte.
(Stefano d’Arrigo in HORCYNUS ORCA)

ZEIT

Donnerstag, März 23rd, 2017

Zeit
Toscana

Zeit. Einstein machte Sirup daraus, und Dali ließ sie samt Uhr und allem schmelzen.
(Cees Noteboom)

Breslau144
Wroclaw

Marseille 161
Marseille

Zeit. Je unvollständiger die Zeit durch anregende Vorstellungen ausgefüllt wird, desto furchtbarer wird sie. Durch die Zwischenräume des Lebens grinst uns die leere Zeit an.
(Ror Wolf)

Prag032
Prag

Mitgehört

Samstag, November 5th, 2016

9 Lives
Gabi betrachtet „9 Lives“ von April Gertler in der Galerie im Körnerpark

Bisweilen, wenn ich durch die Straßen gehe, vernehme ich Bruchstücke intimer Gespräche, und fast alle betreffen die andere Frau, den anderen Mann, den jungen Mann einer dritten oder die Geliebte eines vierten … Beim bloßen Anhören dieser Schatten menschlicher Rede, worin sich erschöpft, womit sich die Mehrheit bewußter Menschen beschäftigt, überkommt mich Abscheu und Langeweile, eine Angst vor dem Exil unter Spinnen und das Bewußtsein, unter wirklichen Menschen erdrückt zu werden; ich fühle mich dazu verurteilt, dem Vermieter und den übrigen Mietern des Häuserblocks gegenüber ein gleichgestellter Nachbar zu sein, der angeekelt durch das hintere Gitter des Lagerraums den fremden Müll betrachtet, der sich bei Regen in dem Hinterhof stapelt, der mein Leben ist.
(Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares, 312)

Kunstspaziergänge – München und Umgebung (12)

Montag, Juni 27th, 2016

2016_06_12 75

2016_06_12 74

Und was ist mit den Denkmälern, den Mahnmalen für historische Ereignisse, Qualen der Menschen oder gar ihre tödlichen Abenteuer? So wenige dieser Monumente kenne ich, und das, obwohl sie über ganz Europa verteilt sind! Solche Mühe ist erforderlich, bis der Künstler, ein Mann mit mir unbekanntem, doch sicherlich berühmten Name, dessen Form dem dienstbaren Lehme, dem Urstoff der Welt, wie viele sagen, oder wesentlich härteren Materialien abringt, bis die endgültige Gestalt aus Granit oder gegossener Bronze einen wunderschönen Platz ziert. Ist es denn wahr, was man in den interessanteren der Vereinigungen von Müßiggängern erzählt, eine gewisse Person aus der Zunft der Steinmetze habe ein lebendes menschliches Geschöpf mit todbringendem Blei übergossen und so eine Hohlform erhalten, welche bis zur letzten Pore dem Vorbild ähnele? Sicher gehört die Anekdote ins Reich der Legende, trotzdem lohnt sich der Gedanke, wie in künstlerischen Werken, hiesigen ebenso wie ausländischen, eine derartige Ähnlichkeit erzielt werden konnte.
(meint der Apothekergehilfe Hinko Hinkovic in Bora Cosics (Brigitte Döbert) Roman „Die Tutoren„)

Fliegende Schnecke

Dienstag, Januar 12th, 2016

2016010925

Nach dem Regen ging Natalie in der Nachbarschaft Schnecken suchen. Unweit ihrer Wohnung fand sie ein paar, die auf dem Gehsteig unterwegs waren, langsam wie Kometen. Sie pflückte sie und setzte sie unter einige Büsche. Den Schnecken schrumpften darüber die Fühlerantennen ein, ihr Kopf wurde rund und blind, sie duckten sich zurück in ihre Häuser. lm Grunde war ein solches Verpflanztwerden vollkommen unverständlich, nichts in ihrer Natur konnte sie darauf vorbereiten. Zuerst war man hier, dann plötzlich da, ein Glitch, ein Sprung-Fehler in der Zeit. Natalie fragte sich, ob es prinzipiell möglich war, einer Schnecke eine Wohltat zu erweisen, die diese als solche wahrnehmen und auch mit dem Spender in Verbindung bringen würde. Wahrscheinlich nicht. Sie hatten nicht viel mit uns zu tun. Natalie bedankte sich bei den Schnecken, von denen manche sich unter dem tropfenden Buschblätterdach schon wieder zu entfalten begannen, und kehrte nach Hause zurück.
(Clemens J. Setz, aus: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre)

Das Universum übertölpeln

Samstag, November 28th, 2015

Katzen einschließen

An jedem Flyer, der über ein entlaufenes Tier informierte, musste sie stehen bleiben. Addiert ergab das im Monat bestimmt einige hundert Schweigeminuten vor Baumstämmen, Hausmauern, Säulen und Ampelmasten. Schlecht ausgedruckte, viel zu kleine Bilder von Hunden und Katzen. Einmal war es sogar ein als zierIich und sanftmütig bezeichneter Hase. Was geschah eigentlich, wenn das vermisste Wesen gefunden wurde? Ging man dann die Straßen ab und entfernte die Flyer? Wahrscheinlich. Aber vielleicht konnte man, indem man die kausale Folge umkehrte und die Flyer einfach so einsammelte, das Universum iibertölpeln und es dazu bringen, das verlorene Tier zurückzugeben.
(aus: Clemens J. Setz Die Stunde zwischen Frau und Gitarre)