Spaziergang
Joseph Roth, Berliner Börsen-Courier, 24.05.1921 (Auszug)
Was ich sehe, ist der lächerlich unscheinbare Zug im Antlitz der Straße und des Tages. Ein Pferd, das mit gesenktem Kopf in den gefüllten Hafersack sieht, vor eine Droschke gespannt ist und nicht weiß, daß Pferde ursprünglich ohne Droschken zur Welt gekommen sind; ein Kind am Straßenrande, das mit Murmeln spielt und dem zweckmäßigen Wirrwarr der Erwachsenen zusieht und, vom Trieb zur Nutzlosigkeit erfüllt, nicht ahnt, daß es die Vollkommenheit der Schöpfung bereits darstellt, sondern sich im Gegenteil nach Erwachsensein sehnt; einen Schutzmann, der sich einbildet, absoluter Ruhepunkt im Wirrsal des Geschehens zu sein und die Säule irgendeiner ordnenden Macht. Feind der Straße und hierhergestellt, um sie zu bewachen und den schuldigen Tribut an Ordnungssinn von ihr einzukassieren. Ein Mädchen sehe ich im Rahmen eines offenen Fensters, Bestandteil der Mauer und voll Sehnsucht nach Befreiung aus der Umklammerung der Wand, die ihre Welt ist. Einen Mann, der, tief in die Schatten eines winkelreichen Platzes gedrückt, Papierschnitzel sammelt und Zigarettenstummel. Eine Litfaßsäule an der Spitze der Straße, Motto dieser Straße, mit einem kleinen Wind-Gesinnungsfähnchen an der Spitze. Einen dicken Herrn mit Zigarre und im hellen Sakko, der aussieht wie der verkörperte Fettfleck eines Sommertags. Eine Cafeterrasse mit bunten Damen bepflanzt, die warten, bis sie gepflückt werden. Kellner in weißen Gewändern, Portiers in blauen, Zeitungsverkäufer, ein Hotel, einen Liftboy, einen Neger.
Was ich sehe, ist der alte Mann mit der dünnen Fisteltrompete aus Blech am Kurfürstendamm. Ein Bett dessen Tragik auf ihren Besitzer deshalb so aufmerksam macht, weil sie unhörbar ist. Manchmal ist die Fisteltrompete, die kleine Trompete aus weißem Blech, stärker, wirkungsvoller als der ganze Kurfürstendamm. Und die Handbewegung eines Kellners auf der Cafeterrasse, der eine Fliege totschlagen will, ist inhaltsreicher als die Schicksale aller Cafeterrassengäste. Es gelang der Fliege zu entkommen, und der Kellner ist enttäuscht. Warum bist du der Fliege feind, o Kellner? Ein Invalide, der eine Nagelfeile gefunden hat. Jemand, eine Dame, hat die Nagelfeile verloren, an der Stelle, wo der Invalide sitzt. Nun beginnt der Bettler, seine Nägel zu feilen. Mit diesem Zufall, der ihm eine Nagelfeile in die Hand gespielt hat, und durch diese geringfügige Handlung des Nagelfeilens hat er symbolisch tausend soziale Stufen übersprungen. Ein Hund, der einem fliegenden Kinderball nachhetzt und vor dem leblos liegenden Gegenstand haltmacht und nicht begreifen kann, wie so ein dummes hirnloses Gummiding lebendig und witzig hüpfen kann, ist ein Held eines Augenblicksdramas. Nur die Kleinigkeiten des Lebens sind wichtig.
Was kümmert mich, den Spaziergänger, der die Diagonale eines späten Frühlingstages durchmarschiert, die große Tragödie der Weltgeschichte, die in den Leitartikeln der Blätter niedergelegt ist? Und nicht einmal das Schicksal eines Menschen, der ein Held sein könnte einer Tragödie, der sein Weib verloren hat oder eine Erbschaft angetreten oder seine Frau betrügt oder überhaupt mit irgend etwas Pathetischem in Zusammenhang steht. Jedes Pathos ist im Angesicht der mikroskopischen Ereignisse verfehlt, zwecklos verpufft. Das Diminutiv der Teile ist eindrucksvoller als die Monumentalität des Ganzen. Ich habe keinen Sinn mehr für die weite, allumfassende Armbewegung des Weltbühnenhelden. Ich bin ein Spaziergänger.
(aus: Joseph Roth in Berlin Ein Lesebuch für Spaziergänger, Hrsg. Michael Bienert)