Posts Tagged ‘Zitat’

Auf hoher See

Donnerstag, August 12th, 2010

Ich frage: „Und Sie selber? Spazieren Sie?“
„Nein, nein, ich habe so viel zu tun.“

Auf hoher See 1

Ich kannte viele Leute, die sagten mit Recht:“Ich bin tüchtig. Ich bin erschöpft.“ Mit Inbrunst griffen sie nach Ehrenämtern und Unternehmungen, erwiesen ihre Leidensfähigkeit, ohne den Blick nach links oder rechts zu wenden, hetzten mit Import- und Exportziffern zu Sitzungen und Tagungen in die entlegensten Siedlungen, keuchend wie Wesen, die gebären. Und dann ging’s ans Sterben, und sie entdeckten: Sie hatten die Fahrt übers Meer im Schiffsbauch zugebracht. Keinen sternenüberdachten Ozean gesehen, keine Küsten, von Molen und stinkenden Häfen umkränzt, keine unwirtlichen Eilande, rauchende Vulkane. Keine Möwen schreien gehört. Kein verkrustetes Salz von den Planken gekratzt. Nie einem Ertrinkenden einen Rettungsring zugeworfen. Sie wussten nicht, worüber sie zürnten, und wussten nicht, und wussten nicht, wie sie sich hätten beruhigen können. Schauerlich. Bei Lebzeiten begraben. Aber man muss nicht so leben.
Spazieren führt an Deck des Schiffes.
(… und wieder eine Weisheit von Zbinden)

Auf hoher See 2
Pomona Zipser, Auf hoher See, 1990

Kunst des Spazierens

Mittwoch, August 11th, 2010

Berliner Gotik

Spazieren ist die älteste Methode geistiger und körperlicher Entfaltung. Adam und Eva sind aus dem Paradies spaziert. Sokrates schlenderte auf einer frisch eingeweihten Straße auf der Suche nach kraushaarigen Jünglingen, denen er einen Tritt versetzen konnte. Jesus und der Teufel spazierten in der Wüste und fachsimpelten angeregt miteinander.

Bänke

Wissen Sie, was Spazieren heißt? Spazieren heisst: Aneignung der Welt. Den Zufall preisen.

Beleuchtung

Wie man sich vor einem Spaziergang fühlt, steht oft im umgekehrten Verhältnis zu dem, was der Spaziergang bringen wird. Je schlechter man sich fühlt, desto wundervoller der Spaziergang.

Resort

Ohne Übung bleiben die meisten Menschen zweit oder drittklassige Spaziergänger, …, Spaziergänger, die die Sensationen, die ihnen widerfahren, nicht bemerken.
(mehr Spaziergangsweisheiten gibt es bei Spaziergänger Zbinden)

Struktur

Ernesto

Freitag, Mai 14th, 2010

Auferstehung
Georg Kolbe, 1933/34

Eines Tages kam [Ernesto] zufällig vor das Portal einer Kirche, wo sich auf erhobenen Sockel eine in Stein gemeißelte Frauenfigur befindet. … Er betrachtete sie und schien sich nicht mehr von ihr trennen zu können, so sehr gefiel sie ihm.
„Dieses Antlitz“, sprach er, „ist ebenso hold wie ernsthaft, ebenso achtungsgebietend wie anziehend. Schade, dass es nicht lebt; aber lebt es denn nicht? Doch das tut es.“ Es schien, er habe nun seine Geliebte gefunden, und in der Tat stellte er sich von da an täglich um dieselbe Stunde vor dem Idealbild ein, Gespräche mit ihm führend, als könnte es reden, und gäbe ihm Antwort. „Was ich an dir schön finde“, sagte er, indes er so nah wie möglich vor sie hinstand, die ihm begreiflicherweise keine Achtung schenkte, „ist die ruhende Beständigkeit. Stets bist du dieselbe. Von welcher anderen Frau, so liebenswürdig sie sein mag, läßt sich dies sagen? Blick ich dich an, so hab‘ ich nie den unangenehmen Eindruck, ich sei dir lästig, du lässt dir mein Forschen mit großartiger Gelassenheit gefallen. Wie sind dein Gewand und deine Körperhaltung edel. Ich liebe dich in jeder Beziehung, obschon ich eigentlich den loben sollte, der dich schuf, aber dein Anblick lässt mich vergessen, dass du ein Kunstgegenstand bist; es ist mir, als kenntest du mich und sähest mich gern. Verzeih die Aufdringlichkeit dem Liebebedürftigen.“
(aus: Robert Walser: Ernesto – mehr in: Feuer, Suhrkamp 2003)

Unterwegs im Ruhrgebiet (12)

Dienstag, Mai 11th, 2010

Die größte begehbare Camera Obscura der Welt steht in Mülheim an der Ruhr.

Camera Obscura

Loch. Wir bohren ein Loch in unseren Fensterladen, wie das bereits vor mehr als vierhundert Jahren der berühmte Leonardo da Vinci tat. Wenn nun der Lichtstrahl durch dieses Loch auf die Wand fällt, dann sehen wir dort ein deutlich verkleinertes Bild der Häuser und Bäume. Das sind Tatsachen, die durch kein auch noch so geschicktes Hinwegsehen aus der Welt zu schaffen sind.
(Ror Wolf in Tranchirers letzte Gedanken …)

Camera Obscura 1

Traurige Geschäftsschilder

Dienstag, Februar 23rd, 2010

Alphabet

Ein anderer kam ihm nach und erzählte folgendes: Wenn er durch die Straßen gehe – und noch aufregender sei es aber, wenn man mit der Elektrischen fährt -, zähle er schon seit Jahren an den großen lateinischen Buchstaben der Geschäftsschilder die Balken (A bestehe zum Beispiel aus dreien, M aus vieren) und dividiere ihre Zahl durch die Anzahl der Buchstaben. Bisher sei das durchschnittliche Ergebnis zweieinhalb gewesen; ersichtlich sei dies aber keineswegs unverbrüchlich und könne sich mit jeder neuen Straße ändern: so wird man von großer Sorge bei Abweichungen, von großer Freude beim Zutreffen erfüllt, was den läuternden Wirkungen ähnle, die man der Tragödie zuschreibt. Wenn man hingegen die Buchstaben selbst zähle, so sei, …, die Teilbarkeit durch drei ein großer Glücksfall, weshalb die meisten Aufschriften geradezu ein Gefühl der Nichtbefriedigung hinterlassen, das man deutlich bemerkt, bis auf jene, die aus Massenbuchstaben, das heißt aus solchen mit vier Balken, bestehn, zum Beispiel WEM, die unter allen Umständen ganz besonders glücklich machen. Was folge daraus, fragte der Besucher. Nichts anderes, als daß das Ministerium für Volksgesundheit eine Verordnung herausgeben müsse, die bei Firmenbezeichnungen die Wahl von vierbalkigen Buchstabenfolgen begünstige und die Verwendung einbalkiger wie O, S, I, C möglichst unterdrücke, denn sie machten durch ihre Unergiebigkeit traurig!
Robert Musil in: Mann ohne Eigenschaften

Aufforderung

Sonntag, Januar 31st, 2010

Aufforderung

Während ich mich nun über dies alles lustig machte, entwich mir unversehens ein so grausamer Leibesdunst, dass wir beide, ich und der Sekretär, darüber erschraken. Augenblicklich meldete er sich sowohl in unseren Nasen als auch in der ganzen Schreibstube so kräftig an wie einer, den man vorher nicht hat klopfen hören. „Troll dich, du Sau“, sagte der Sekretär zu mir, „zu den anderen Säuen in den Stall. Das passt besser zu dir, du ungehobelter Klotz, als dich mit ehrbaren Leuten zu unterhalten.“ … So habe ich mein gutes Ansehen … wie die Redensart lautet, auf einen Schlag vergeigt.
(aus: von Grimmelshausen Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch
aus dem Deutschen des 17. Jahrhunderts übersetzt von Reinhard Kaiser)

Schneedecke

Dienstag, Januar 26th, 2010

Fröstelnd
Dietrich Grünig, 1986

Auf den Plätzen gaben uns fröstelnde Statuen Fragen auf, die wir nicht zu beantworten wußten.
(Mircea Cartarescu in Nostalgia)

Winter in Berlin

Freitag, Januar 8th, 2010

Winter in Berlin

Winter. Die Gefahr des Erfrierens rückt plötzlich in die Nähe des Möglichen. Wir sehen, wie jeder versucht, seine Oberfläche zu verkleinern; jeder ballt die Hände und zieht sie über der Brust zusammen. Frösteln und Zittern wirkt nach dem oben Gesagten steigernd auf die allgemeine Wärmeproduktion, das weiß jeder, und darum erfriert auch nicht jeder; die Todesfälle im Winter beziehen sich in der Mehrzahl auf mangelhaft bekleidete Betrunkene und abgezehrte Personen.

Diese Weisheit habe ich aus meinem Lieblingsnachschlagewerk: Raoul Tranchirers vielseitiger großer Ratschläger für alle Fälle der Welt. Und diesmal ist Winter der Fall.
Bei Schöffling und Co. erscheint RWW, die Ror Wolf Gesamtausgabe.

Zahnlücken

Montag, September 28th, 2009

Zahnlücken

Der Zahn
Barthold Heinrich Brockes

Um grössre Schmerzen zu vermeiden,
Entschloß ich mich, daß mir ein Zahn,
Der mir bishero weh gethan,
Würd ausgebrochen, zu erleiden.

Weil aber die Natur bey starken Gliedern
(So ich dem Schöpfer nie durch Dank kann gnug erwiedern)
Auch starke Zähne mir verliehen;
So schien es erst, als ob, ihn auszuziehen
Der kluge Carpser selbst, der an Geschicklichkeit
Kaum seines gleichen kennt, sich etwas scheut’;  allein,
Weil ich darauf bestund, war er dazu bereit.

Ich nahm mir vor, die strenge Pein,
Ohn’ alles Zucken, sonder Schreyn
Beherzt und standhaft auszustehen.

Er setzte drauf den Pelican,
Den ich vorhero wohl besehen,
Mit Kraft und Vorsicht an.

Wir hielten uns im Anfang beyde gut:
Er brach; ich hielte fest, noch fester doch der Zahn.
Er knackt’, ich wiche nicht. Doch endlich war mein Muth
Noch eher, als der Zahn, gebrochen.
Es riß ein gräßliches Gekrach,
Wodurch des ganzen Hauptes Knochen
Zu spalten schien, ein kurz doch kläglich Ach
Mir aus der Brust. Die feurig wilde Pein,
Der bittre Schmerz, durchdrang so Fleisch als Bein,
Dieß splittert, jenes riß, jedoch, zu meinem Leide,
Kein einzigs ganz entzwey;
Der Sehnen Zähigkeit band sie noch alle beyde.

Allein,
Mit welcher Lust nahm ich, bey aller Pein,
Den Ursprung meiner Qual, den nunmehr losen Zahn
Aus Carpsers blutgen Händen an!

(weiter geht es hier bei Zeno.org)

Schwere Zeiten für Mrs. Washburn

Dienstag, August 4th, 2009

ausgedient

In der EU haben Glühbirnen bald ausgedient.

Lampen

Mrs. Washburn ließ jeden Dienstag und Freitag die Glühbirnen ersetzen, ob es nötig war oder nicht. … Sie mochte frische Glühbirnen. Die Bettwäsche haben wir einmal im Jahr gewechselt.
(Woody Allen in: Über dem Gesetz, unter der Matraze in: Pure Anarchie)